Die beruflichen Schulen bieten allen jungen Menschen mit und ohne Behinderung, Beeinträchtigung, Benachteiligung und
chronischer Erkrankung die Chance alle weiterführenden schulischen Abschlüsse bis hin zur allgemeinen Hochschulreife zu
erlangen.
Zur Erfüllung der Anforderungsprofile im breiten Spektrum der Bildungsgänge an beruflichen Schulen braucht es im Schulalltag
und den Prüfungssituationen gegebenenfalls Maßnahmen und Vorkehrungen zum Ausgleich von Nachteilen und zur Deckung von
Förderbedarfen.
Nachteilsausgleich
1. Was wird durch einen Nachteilsausgleich geregelt und gibt es z.B. Vorgaben bei der Gewährung von Anpassungen der Prüfungszeit?
Der Nachteilsausgleich bezieht sich auf organisatorische, technische und methodisch-didaktische Maßnahmen, die den Betroffenen
ermöglichen, ihre individuellen Fähigkeiten abzurufen und dadurch Wege zu dem schulartgemäßen Niveau ebnen; dieses
Niveau dann zu erreichen, kann auch Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf oder Behinderungen nicht erlassen
werden. Es ist aufgrund des Grundsatzes der Chancengleichheit auch rechtlich geboten, Nachteile von Schülerinnen und Schülern mit
besonderem Förderbedarf oder mit Behinderungen auszugleichen. Damit ist immer eine Einzelfallentscheidung der in der Schule
Zuständigen (siehe hierzu auch Frage 2) über die Art und Weise der Hilfen verbunden, etwa in Form von einer Anpassung der
Arbeitszeit. Ein generelles Maß gibt es nicht.
2. Wer entscheidet über einen Nachteilsausgleich?
Die Maßnahmen zum Nachteilsausgleich kommen zustande aufgrund einer pädagogischen Entscheidung, die allein der Klassen- oder
Jahrgangsstufenkonferenz unter Vorsitz des Schulleiters obliegt.
Betroffene Schüler und Eltern werden frühzeitig in die Entscheidungsfindung einbezogen (Mitwirkungspflicht) und es ist zu
empfehlen, den Inhalt des Nachteilsausgleich schriftlich zu dokumentieren. Beispielsweise sollten auch der Fächerbezug, die zeitliche
Befristung, die besondere Gültigkeit und Begründung festgehalten werden. Bringen Änderungen beim Betroffenen Auswirkungen
für das schulische Lernen mit sich, muss der Nachteilsausgleich erneut angepasst werden.
Die Maßnahmen des Nachteilsausgleich haben bindende Wirkung für die Lehrkräfte. Der Nachteilsausgleich für
Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf oder mit Behinderungen lässt das Anforderungsprofil des
Bildungsganges unberührt (z.B. ändern sich die Aufnahmevoraussetzungen, die Notenbildungsverordnung, die Anforderungsprofile der
jeweiligen Fächer und die jeweiligen spezifischen Ausbildungsziele in den beruflichen Schulen nicht).
Insbesondere vor Prüfungen ist zu klären, mit wem genaue Absprachen getroffen werden müssen bzw. die festgelegten
Maßnahmen des Nachteilsausgleich kommuniziert werden müssen (z.B. mit der Handwerkskammer in der dualen Ausbildung).
3. Wer kann die Klassenkonferenz in der Frage eines angemessenen Nachteilsausgleichs beraten?
Die Klassen- oder Jahrgangstufenkonferenz unter Vorsitz des Schulleiters entscheidet „ggf. unter Hinzuziehung eines Beratungs-
oder Sonderschullehrers, schulischer Ansprechpartner, LRS-Fachberater oder in Ausnahmefällen der zuständigen schulpsychologischen
Beratungsstelle“ (aus: VwV des Kultusministeriums „Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf und
Behinderungen“ vom 08.03.1999, zuletzt geändert am 22.08.2008). Außerdem stehen zur Beratung auch noch die
„Autismusbeauftragten für die beruflichen Schulen an den Staatlichen Schulämtern im Auftrag der
Regierungspräsidien“, die „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der beruflichen Schulen der Arbeitsstelle Kooperation“
und in gut der Hälfte aller beruflichen Schulen die „Sonderschullehrkräfte im Sonderpädagogischen Dienst an
beruflichen Schulen“ zur Verfügung.
4. Welche Unterlagen müssen bei der Gewährung eines Nachteilsausgleichs vorgelegt werden?
Die Einbeziehung und/oder Anforderung von weiteren Unterlagen (außerschulische Stellungnahmen oder Gutachten) ist eine
Kann-Bestimmung. Aktuelle Gutachten und Expertenmeinungen können zur Hilfe bei pädagogischen Entscheidungen hinzugenommen oder
angefordert werden, insbesondere auch, weil sich Krankheitsbilder verändern können. Sofern Gutachten bei pädagogischen
Entscheidungen einbezogen werden, wird dennoch letztlich von der Schule aus pädagogischer Sicht geprüft und entschieden, welche
Auswirkungen festgestellte Behinderungen oder Beeinträchtigungen in dem besuchten Bildungsgang haben und ggf. welche Maßnahmen
erforderlich sind, um eine erfolgreiche Teilnahme am Unterricht zu ermöglichen.
5. Wie lange gilt ein Nachteilsausgleich?
Ein Nachteilsausgleich bezieht sich im konkreten Einzelfall auf die jeweiligen Voraussetzungen der Schülerin bzw. des Schülers
im Hinblick auf den von ihr bzw. ihm besuchten Bildungsgang mit seinem jeweiligen Anforderungsprofil jeweils in den einzelnen Fächern.
Ändern sich diese Ausgangsvoraussetzungen oder der Bildungsgang, ist der Nachteilsausgleich wieder neu zu prüfen und ggf.
anzupassen.
6. Wo liegen die Grenzen für einen Nachteilsausgleich? Wäre es beispielweise denkbar, dass im Einzelfall eine
Schülerin oder Schüler wegen Konzentrationsproblemen eine Klassenarbeit ohne Aufsicht schreibt?
Die Grenzen liegen im Anforderungsprofil des Bildungsgangs, denn der Nachteilsausgleich lässt das Anforderungsprofil für alle
Schülerinnen und Schüler unberührt, auch für die mit besonderem Förderbedarf oder mit Behinderungen.
Leistungsmessung und Leistungsbeurteilung sind aus Gründen der Chancengleichheit und um Täuschungshandlungen vorzubeugen nicht
ohne pädagogische Aufsichtsperson der Schule möglich. Dies gilt auch für Nachschreibearbeiten.
7. Kann ein Nachteilsausgleich unter Umständen nicht zu einer Benachteiligung für die Mitschülerinnen und
Mitschüler des Betroffenen führen?
Da der Nachteilsausgleich lediglich Beeinträchtigungen ausgleicht, damit diese nicht zu Nachteilen für den Betroffenen
führen, wird das Anforderungsprofil nicht herabgesetzt. Alle Schülerinnen und Schüler erfüllen das gleiche
Anforderungsprofil, der Grundsatz der Chancengleichheit wird dadurch gewährleistet. Die Beurteilung darüber obliegt der
pädagogischen Bewertung durch die Klassen- oder Jahrgangsstufenkonferenz. Da keine Bevorzugung stattfindet, kommt es auch nicht zu
einer Benachteiligung anderer Schülerinnen und Schüler.
8. Ist ein Nachteilsausgleich denkbar, wenn keinerlei Feststellung von besonderem Förderbedarf oder
sonderpädagogischem Beratungs- oder Unterstützungsbedarf vorliegt?
Ein besonderer Förderbedarf oder ein sonderpädagogischer Beratungs- und Unterstützungsbedarf ist nicht Voraussetzung
für einen Nachteilsausgleich. Es liegt allein in der Verantwortung der allgemeinen Schule (siehe Antwort zu Frage 2), Maßnahmen
zum Nachteilsausgleich festzulegen.
Deckung des Förderbedarfs
1. Wer stellt einen besonderen Förderbedarf fest?
Für Schülerinnen und Schüler mit einem besonderen Förderbedarf (Stufe I des Strukturbilds) liegt die
Zuständigkeit bei der Klassen- oder Jahrgangsstufenkonferenz unter Vorsitz des Schulleiters, also bei den allgemeinen
(allgemeinbildenden und berufsbildenden) Schulen. Beispiele für Beeinträchtigungen, die einem besonderen Förderbedarf
zugrunde liegen können, sind:
Teilleistungsstörungen wie z. B. ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom), LRS (Lese-Rechtschreibschwäche), Dyskalkulie, chronische
Erkrankungen wie z. B. Epilepsie, Diabetes, Rheuma und psychische Erkrankungen wie z. B. Depression und Psychose und anderes
mehr.
Der Sonderpädagogische Dienst wird in der Regel immer nur dann auch noch aktiv, wenn sich zusätzlich ein
sonderpädagogischer Beratungs- und Unterstützungsbedarf ergibt, der dann – üblicherweise vorübergehend –
subsidiär Leistungen erbringt, damit der Besuch der allgemeinen Schule weiter erfolgreich verlaufen kann.
Eine gewisse Besonderheit weist der Einsatz des „Sonderpädagogischen Dienstes an beruflichen Schulen“ auf. Zur
Verhinderung von z. B. Ausbildungsabbrüchen in dualen Ausbildungsverhältnissen können die an den beruflichen Schulen
verorteten sonderpädagogischen Lehrkräfte auch im Bereich des besonderen Förderbedarfs unterstützend tätig sein
durch Beratung, Diagnostik und Förderplanung. Darüber hinaus haben die beruflichen Schulen, die an der Maßnahme
„Individuelle Unterstützung in der Berufsschule - IndUs“ teilnehmen, die Möglichkeit zum Aufbau eines Teams zur
individuellen Förderung.
2. Wer stellt einen sonderpädagogischen Beratungs- und Unterstützungsbedarf fest?
Der sonderpädagogische Beratungs- und Unterstützungsbedarf als Begriff stammt ursprünglich aus dem Strukturbild der gestuften Hilfen und meint die Stufe II (vgl. Landesinstitut für Schulentwicklung Stuttgart: Rahmenkonzeption sonderpädagogischer Dienst, Juli 2017, Seite 2); der sonderpädagogische Beratungs- und Unterstützungsbedarf wird nicht formal festgestellt (wie etwa der „Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot“,der durch das Staatliche Schulamt festgestellt wird.)
Bevor der sonderpädagogische Dienst aktiv wird, hat die Schule die Aufgabe, auf auffällige Leistungshemmnisse und
emotional-soziale Instabilitäten zu reagieren. Hierfür steht der jeweiligen Schule ein gestuftes System der Beratung und
Unterstützung der allgemeinen Pädagogik zur Verfügung, das in der Regel in seinem gesamten Umfang in Anspruch genommen
werden sollte. In einzelnen Fachrichtungen (v.a. Sehen, körperliche und motorische Entwicklung und Hören) ist dieser Vorlauf
nicht erforderlich, wenn der Bedarf evident ist.
Erst wenn sich zeigt, dass trotz der Inanspruchnahme dieser Unterstützung immer noch ein erhöhter Beratungs- und
Unterstützungsbedarf besteht, wird nach Anhörung der Erziehungsberechtigten und ggf. der betroffenen Jugendlichen über die
Hinzuziehung des sonderpädagogischen Dienstes entschieden.
Je nach Förderbereich des Betroffenen und je nach Gegebenheiten der beruflichen Schule kann der sonderpädagogische Beratungs-
und Unterstützungsbedarf gedeckt werden durch
den „Sonderpädagogischen Dienst der Beruflichen Schulen“ (wenn vorhanden),
oder den „Sonderpädagogischen Dienst, der überregional tätig ist für bestimmte
Förderschwerpunkte“ (z.B. Hören: Paulinenpflege Winnenden; z.B. Sehen: Nikolauspflege Stuttgart),
oder den „Sonderpädagogische Dienst eines Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrums“;
hier empfiehlt es sich, dass sich die berufliche Schule an das Staatliche Schulamt wendet zur Vermittlung an ein passendes
Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum.